Der zerbrochene Spiegel
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copyright by e.j. michel im Januar 2002 Gewidmet meiner lieben Herzensfreundin Isabella
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Es
war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne stand
hoch am Himmel und
schien unaufhaltsam auf die Erde nieder. Die Vögel zwitscherten, und die Natur entfaltete sich
in all ihrer Schönheit.
Da saß ein kleines Mädchen, namens Elmira traurig in seinem Zimmerchen und sann verzweifelt über sein Schicksal nach. Es fühlte sich schwach und elend und war sehr unglücklich. Das grelle Licht der Sonne blendete es so sehr, und die Augen taten ihm weh. Es liebte vielmehr die Nacht, denn die Dunkelheit deckte seine Ängste und Traurigkeit wie mit einem dunklen Schleier zu. Elmira hatte sich ein großes Tuch vors Gesicht gebunden und trug eine dunkle Brille, damit niemand es anstarren würde. Es war so tief in Gedanken versunken und fragte sich immer wieder, "Wo ist mein Gesicht, und wer bin ich eigentlich?" Es hatte so große Angst in den Spiegel zu schauen, denn immer, wenn es hinein blickte, dann sah es eine hässliche Fratze, und kurz darauf zersprang der Spiegel in tausend Stücke. Elmira`s Mutter war eine liebe und gütige Frau. Sie nannte es Siebenschön, weil es die sieben Schönheiten besaß. Es hatte ein hübsches Gesicht, schöne lockige Haare, einen wunderschönen Mund und eine wohlgeformte Figur . Außerdem besaß es einen hellen Verstand, hatte ein offenes Herz und eine warme Seele. Die Mutter sagte immer wieder zu ihrer Tochter, "Mein Kind, ich habe Dich so lieb. Du bist wunderschön. Bitte glaube mir das." Elmira konnte jedoch die Worte der Mutter nicht glauben, denn es hatte die Fratze im Spiegel doch schon so oft gesehen. So wurde es immer unglücklicher. Elmira`s Vater war schon lange Zeit gestorben, und er fehlte ihm so sehr. Immer, wenn es abends betete, dann sprach es zu ihm, "Mein Vater, was soll ich nur tun? Bitte sage Du mir die Wahrheit! Wo ist mein Gesicht?" Aber, es erhielt keine Antwort auf all seine Fragen. So beschloss es eines Nachts, von zu Hause weg zu gehen, um nach seinem Ich zu suchen. Es würde ein langer und beschwerlicher Weg werden, dass wusste Elmira. Aber, es war seine letzte Chance, um wieder glücklich zu sein. Es schnürte sich ein Ränzlein und tat alle Sachen hinein, die ihm wichtig waren, und die es brauchen könnte. Dann schlich es sich leise in die Dunkelheit der Nacht hinein. Der Mond stand in voller Pracht am Himmel und Elmira folgte seinem Schein. Da sah es plötzlich in der Ferne, dass sich der Himmel erhellte. "Oh, weh, ein Gewitter wird aufziehen. Wo soll ich denn nur hin in der finsteren, dunklen Nacht?" Das Gewitter zog unaufhaltsam heran, Blitze zuckten, und der Donner grollte wie ein böses, wildes Tier. Die Wolken öffneten sich, und der Regen peitschte hernieder. Elmira hatte schreckliche Angst, und es begann immer schneller zu laufen. Da sah es plötzlich in der Dunkelheit ein kleines Licht aufleuchten. Als es näher kam, sah es dort ein Häuschen mit erhellten Fenstern stehen. Es klopfte leise an und trat ein. Da saßen ein paar Zwerge um einen Tisch herum und hatten gerade ein köstliches Mahl aufgetischt. Als sie Elmira sahen, waren sie ganz erstaunt und riefen alle durcheinander, "Wer bist Du, wo kommst Du her, und wo willst Du hin in dieser schrecklichen Nacht? Komm, setz Dich zu uns, liebes Kind und iss mit uns." Das Mädchen setzte sich zaghaft zu den Zwergen an den großen Tisch. Es traute sich zunächst nicht, aber als ihm die Zwerge keine Ruhe ließen, begann es von seinem Schicksal zu erzählen. Die Zwerge hörten gespannt zu, bis der Älteste endlich sprach, "Elmira, bitte nimm Deinen Schleier und die dunkle Brille ab. Du brauchst keine Angst zu haben, denn wir sind doch Deine Freunde." "Nein, nein, das kann ich nicht. Ich habe so große Angst, wenn mich jemand anschaut." Aber, die Zwerge bettelten so sehr, dass Elmira schließlich nachgab. Als sie das Gesicht des Mädchens sahen, riefen sie wie aus einem Munde, "Elmira, wie schön Du bist. Du hast ein wunderschönes, liebliches Gesicht. Deine Augen sind so tief wie das Meer, Dein Mund ist rosarot, und Deine Haare sind so weich und schimmern wie Samt." Da begann das Mädchen bitterlich zu weinen, denn es konnte den Zwergen nicht glauben. Es wusste doch selbst, was der Spiegel ihm verriet. Da kam dem jüngsten der Zwerge eine Idee, und er rief, "Da fällt mir etwas ein. Wir haben doch noch einen Spiegel im Haus. Es ist ein wunderschönes Ding und ganz mit Gold verziert. Erinnert Ihr Euch nicht? Es war das Geschenk des Königs, als wir wir ihm Unterkunft gewährt haben." Das Zwerglein lief aus dem Zimmer und kam sogleich mit dem prachtvollen, goldenen Spiegel wieder zurück. "Hier, liebe Elmira. Schau hinein, dann wirst Du Dein wahres Gesicht sehen und Dein Ich erkennen." Voller Angst und großem Zweifel nahm Elmira den mächtigen, schweren Spiegel in die Hand und hielt ihn vors Gesicht. Es konnte nicht glauben, was es da sah. Sein Gesicht war wirklich lieblich und schön. E s wollte den Spiegel gar nicht mehr aus der Hand legen. Doch plötzlich grinste ihm wieder diese entsetzliche Fratze mit den großen, unheimlichen Augen entgegen. Dann klirrte es, und der Spiegel zersprang in tausend Stücke. Die Zwerge standen wie versteinert daneben. Keiner von ihnen konnte sich vor Schreck bewegen. Was war da bl0ß geschehen? Elmira vergrub sein Gesicht in den Händen und begann wieder zu weinen. Die Zwerge versammelten sich um es herum, strichen ihm übers Haar und trösteten es. "Liebes Kind, bitte glaube uns, Du bist wunderschön. Sicher war der Spiegel verhext. Bitte sei nicht mehr traurig." Das Mädchen aber bedankte sich bei den Zwergen, verhüllte wieder sein Gesicht und lief aus dem Haus in den Wald hinein. Langsam graute der Morgen und Elmira plagte der Hunger. Es setzte sich ins Gras, schnürte sein Ränzlein auf und holte sich eine Scheibe Brot heraus. Als es sich gestärkt hatte, war es so müde, dass es sich nieder legte und schnell einschlief. Im Traum hörte es eine sonderbare Stimme. "Mein Kind. Du bist auf der Suche nach Deinem wahren Gesicht. Nun, da kann ich Dir helfen. Folge dem Weg, der in Richtung Süden führt. Dann wirst Du auf mein prachtvolles Schloss stoßen. Wenn Du einige Zeit für mich arbeiten willst, dann werde ich Dir einen Spiegel schenken, der Dir Dein wahres Ich zeigen wird." Die Stimme verstummte, und Elmira kam ganz langsam zu sich. Was war das für eine seltsame Stimme gewesen, die zu ihm gesprochen hatte? Sollte es dem Weg nach Süden folgen zu dem prachtvollen Schloss? Es zweifelte, denn es war schon sehr schwach und müde. Aber vielleicht war das seine letzte Chance, und die musste es einfach ergreifen. Es hängte sich wieder das Ränzlein um und folgte dem Weg nach Süden. Er war sehr steil, voller Steine, und es ging ständig bergauf. Doch plötzlich sah Elmira auf einem Hügel ein prächtiges Schloss stehen. Sogleich fühlte es neue Kraft und lief so schnell es konnte. Es trat in die große Eingangshalle, aber niemand war zu sehen. Elmira bekam auf ein mal große Angst und wollte wieder hinaus laufen, aber da merkte es, dass es jemand am Arm fest hielt. "Mein Kind, so warte doch. Wo willst Du denn so eilig hin?" Das Mädchen drehte sich erschrocken um und blickte in zwei funkelnd grüne Augen. Das Gesicht war mit tiefen Falten übersät und so hässlich, dass Elimira fast zu Tode erschrocken wäre. "Wer bist Du?" fragte es ängstlich. "Ich bin Esra, die mächtigste Zauberin in diesem Land. Esra, das heißt, die Helfende. Ja, ich habe schon vielen Menschen geholfen, ha... ha... ha..." Ihr grausames Lachen hallte unheimlich von den Wänden wieder, und Elmira fürchtete sich so sehr, dass es die Tränen nicht zurück halten konnte. "Was weinst Du, Du dumme Gans?" antwortet die Zauberin. "Wenn Du in meinen Dienst eintreten willst, für mich kochen, waschen und putzen wirst, und wenn Du Deine Arbeit ordentlich machst, dann will ich Dir helfen, Dein wahres Gesicht zu sehen." Das Mädchen willigte nach langem Zögern ein. Was blieb ihm auch anderes übrig? Es musste jede Chance ergreifen, denn der Wunsch, sein eigenes Ich zu erkennen, war so groß. Es begab sich also in den Dienst der mächtigen, alten Frau und tat alles zu ihrer Zufriedenheit. Aber, die alte, böse Frau wurde immer zorniger und schimpfte es, wo sie nur konnte. Und so wurde Elmira von Tag zu Tag kränker und schwächer. Es glaubte nicht mehr daran, dass die Zauberin ihm helfen und ihm die Angst vor dem Spiegel nehmen könnte. Da beschloss Elmira wieder fort zu gehen. Eines Nachts, als die Turmuhr die Mitternacht ein schlug, und mächtige Wolken den hellen Mond verdeckten, schleppte es sich mit letzter Kraft aus dem Schloss und schlich sich in den tiefen, finstern Wald hinein. Auf einem weichen Moosbett lies Elimira sich fallen und schlief völlig erschöpft ein. Es fühlte sich so erbärmlich, dass es nicht bemerkte, wie der neue Tag anbrach. Doch plötzlich spürte es, wie sich ein dunkler Schatten über sein Gesicht legte und jemand mit leiser Stimme zu ihm sprach, "Liebes Mädchen, wach doch auf. Sag mir, wer bist Du?" Elmira richtete sich langsam auf und blickte in ein wunderschönes, liebliches Gesicht. Es war ein kleines Mädchen mit wunderbarem, langen, seidigen Haar und dunklen Augen, und ihr Lächeln lies Elmira sofort Vertrauen fassen. Es reichte dem Mädchen die Hand und sagte, "Mein Name ist Elmira, und wer bist Du?" "Ich bin Imoria, aber, sag, warum hast Du Dein Gesicht versteckt?" Da überkamen Elmira wieder die Tränen, und es erzählte Imoria von seiner Angst, und dass es auf der Suche nach seinem Ich war. Imoria hörte gespannt zu und sprach, "Elmira, ich kann Dich so gut verstehen. Auch ich habe Angst, wenn ich in den Spiegel schaue. Immer, wenn ich es tue, dann sehe ich mich als eine erwachsene, viel zu dicke Frau. Deshalb verhülle ich meinen Körper in viel zu weiten Kleidern. Auch ich bin auf der Suche nach mir selbst und nach so vielen Antworten. Leider war ich bisher erfolglos. Magst Du nicht den Schleier und Deine Brille abnehmen? Du brauchst Dich vor mir nicht zu fürchten. Bitte habe doch Vertrauen." Darauf antwortete Elmira zaghaft, "Nein, ich kann nicht. Meine Angst ist so groß. Hast Du vielleicht Hunger? Ich habe noch ein kleines Stückchen Brot, das ich mit Dir teilen könnte." Imoria schüttelte den Kopf, "Nein danke. Ich darf nichts essen. Ich habe solche Angst. Ich fühle mich so schrecklich dick." Elmira sah das Mädchen an und sagte, "Aber, Du bist nicht dick. Du bist wunderschön." Imoria schaute Elmira erstaunt an und wollte ihr die Worte nicht glauben. Da fasste sich Elmira ein Herz, denn es hatte großes Vertrauen zu dem Mädchen gewonnen. Es nahm den Schleier ab und legte die Brille weg. Imoria war so überwältigt, dass sie rief, "Auch Du bist wunderschön. Dein Gesicht ist so lieblich und Deine Züge so rein. Deine Augen sind so grün wie zwei Smaragde. Bitte habe keine Angst. Ich sage Dir die Wahrheit." Elmira war so berührt von der Güte des Mädchens, dass es bitterlich weinen musste. Imroria nahm Elmira in den Arm, und auch ihr rollten die Tränen über die Wangen. Da beschlossen die beiden Mädchen ihren Weg zusammen fort zu setzen und gemeinsam nach ihrem Ich zu suchen. Gleich am nächsten Morgen wollten sie sich auf den Weg machen. Den ganzen Tag über redeten sie und erzählten sich von ihrem Leben. Dann beschlossen sie, Freundinnen zu sein und schworen sich bei Gott, dass das Band ihrer Freundschaft auf Ewig halten sollte. Am Abend waren sie so müde und machten sich unter einer alten Eiche ein Lager für die Nacht. Sie überlegten sich krampfhaft einen Plan und sannen verzweifelt darüber nach, wo sie denn noch nach ihrem Ich suchen könnten. Überwältigt von den Ereignissen des langen Tages und ihrer körperlichen Schwäche schliefen sie schließlich ein. Elmira nahm die Hand von Imoria und hielt sie ganz fest. Sie beschloss diese niemals mehr los zu lassen. In der Nacht wurde es plötzlich ganz hell und ein blendendes Licht fiel auf die beiden Mädchen. Imoria erwachte als Erste und rüttelte Elmira wach, "Schau nur, Elmira. Was ist das?" rief es erschrocken. Elmira richtete sich auf, war aber von dem hellen Schein so geblendet, dass es seine Augen abwenden musste. Die beiden Mädchen waren wie gebannt und umklammerten sich ängstlich. Da hörten sie plötzlich eine Stimme aus dem hellen Schein zu ihnen sprechen, "Ihr lieben Mädchen, fürchtet Euch nicht. Ich bin die Wahrheit und möchte Euch gerne helfen Euer wahres Ich zu sehen. Ihr habt Angst vor Eurem Spiegelbild? Elmira, Du suchst nach Deinem Gesicht, und Imoria, Du hast Angst und fühlst Dich zu dick. Ihr Beide seid gute Freundinnen geworden und habt Vertrauen zu einander gefasst. Das ist sehr wichtig für das, was ich Euch nun sagen werde. Kein Spiegel dieser Welt kann Euch Euer wahres Ich zeigen. Schaut in die Augen der Anderen und in deren Herz, denn dort ist der Spiegel der Seele. Hier werdet Ihr Euch selbst erkennen und wieder finden. Denn, wer sich durch die Augen des Anderen sieht, der erkennt die Wahrheit. Die Wahrheit ist Eure Liebe, das Verständnis und Euer gegenseitiges Vertrauen. Habt keine Angst und fürchtet Euch nicht, denn ich bin die Wahrheit. " Die Stimme verstummte wieder und das helle Licht erlosch. Elmira und Imoria blickten sich erstaunt an. Dann begriffen sie, was die Stimme gemeint hatte. Sie sahen sich in die Augen und öffneten Ihre Herzen. Da erkannten sie durch die Liebe der Anderen ihr wahres Ich. Sie fielen sich in die Arme und weinten vor Freude. Dann schworen sie sich bei Gott, dass ihr wunderbares Band der Freundschaft ein Leben lang halten sollte, und niemand es wieder trennen würde....
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