Die kleine Anna und die Zauberfee
copyright by elke j. michel im Januar 2002 Gewidmet meiner lieben Mama und meinem lieben, verstorbenen Papa
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Es war noch früher Morgen. Ein
wunderbarer Tag zog durch die noch nachtfeuchte Luft zwischen den
leichten Nebelschwaden herauf. Einer jener Frühlingstage, die die Natur
zu neuem Leben erwachen lässt. An diesem Morgen wachte die kleine
sechsjährige Anna wie jeden Morgen in ihrem Bettchen auf und war sehr
traurig. Schon viele Jahre lebte sie nun in diesem Waisenhaus, denn ihr
waren Vater und Mutter gestorben.
Aber irgendetwas war an diesem Morgen anders. Anna hüpfte aus dem Bett und starrte eine lange Zeit aus dem Fenster ihres kleines Zimmerchens hinaus. Der Nebel stieg langsam über die Dächer der Häuser hinweg, und die ersten warmen Sonnenstrahlen trafen auf ihr Gesicht, das plötzlich von Tränen feucht geworden war. Da fasste sie einen Entschluss. Ja, es war ihr plötzlich alles so klar. Sie wollte einfach weg von diesem kalten Ort. So oft schon hatte sie von einer guten Fee geträumt, die ihr einen Wunsch erfüllen würde, ihren sehnlichsten Wunsch, endlich ihre geliebten Eltern wieder zu sehen. Voller Tatendrang sprang sie in ihr Kleidchen, zog sich ein Jäckchen über und tat die Schuhe an. Dann schlich sie sich leise aus dem Haus. Die Luft war noch kühl, aber, es würde ein sehr schöner Tag werden, dachte das Mädchen. Sie ging und ging völlig in Gedanken versunken durch den Park, der vor dem Waisenhaus lag. Sie schaute an den riesigen Bäumen empor bis in deren Wipfel, die bis in den Himmel zu reichen schienen. "Dort sind Mama und Papa", dachte Anna voller Tränen in den Augen. Als sie ihrem Blick wieder senkte, kam sie an einer Bank vorüber. Dort saß eine alte Freu mit weißen, langen Haaren, roten Pausbacken, eingemummt in eine dicke, flauschige Jacke. Sie hatte ein liebliches, junges Kätzchen auf dem Arm und lächelte Anna zu, "Setz Dich her zu mir, mein Kind und hab keine Angst." Ihre Stimme klang dem Mädchen wie eine wundervolle Melodie in den Ohren. "Wie lieblich und jung sich ihre Stimme anhört. Dabei ist sie doch eine alte Frau", dachte Anna. Aber, sie hatte keine Angst vor der Alten, denn ihre Augen funkelten und ihr Gesicht spiegelte so etwas wie Anmut, Güte und Schutz aus. So setzte sich Anna neben die alte Frau, streichelte das kleine Kätzchen und begann über ihr langes, trauriges Schicksal zu erzählen. Die alte Frau hörte aufmerksam zu, als Anna ihr von dem tragischen Unfall berichtete, der ihr die Eltern genommen, und den sie überlebt hatte. "Weißt Du," sagte die Alte. "Der liebe Gott hat Deine Mama und Deinen Papa zu sich geholt, damit sie es bei ihm besser haben sollen als hier auf der Erde." "Aber, warum hat er mich nicht auch mit genommen? Warum hat er mich von ihnen getrennt?", rief das Mädchen völlig verzweifelt. Da sprach die Alte, " Meine kleine Anna. Du sollst noch viel lernen im Leben und zu einem guten Menschen heranwachsen. Das hat der liebe Gott so gewollt, und er gibt Dir die Chance dazu." "Wer bist Du eigentlich?" wollte Anna wissen. "Ich bin Deine gute Fee", sagte die alte Frau." Meine gute Fee? Das glaube ich nicht. Feen sind jung und hübsch. Sie können zaubern und sind einer Silhouette gleich. Warum sollte ich Dir das glauben?", zweifelte das Mädchen." Auch Feen werden einmal alt, mein Kind," antwortete die Alte. "Aber, ich verspreche Dir, dass Du mir glauben wirst, wenn wir in meinen Zauberwald gehen, dort wo ich wohne. Es ist gar nicht so weit von hier. Wenn es Nacht wird im Wald, dann fliege ich zwischen den Bäumen dahin, tanze wie eine Prinzessin, meine Flügel funkeln, und ich bin einer Silhouette gleich. Dann bringe ich den Menschen schöne und gute Träume, wenn es Ihnen schlecht geht oder sie traurig sind. Ich kann auch zaubern. Aber, das gelingt mir nicht immer; nur bei guten und lieben Menschen. Am Tage aber, wenn ich unter den Menschen weile, dann bin ich nur eine hässliche, alte Frau." So sprach die Alte, und Anna hing wie gebannt an ihren Lippen, als sie das erzählte. "Darf ich einmal mit Dir kommen?", fragte Anna. "Nimmst Du mich mit? Ich möchte Dich so gerne tanzen und zaubern sehen" "Natürlich, mein Kind, darfst Du mit mir kommen," erwiderte die alte Frau. "Aber, bitte, sage keinem etwas davon, denn es ist ein Geheimnis und, wenn Du es brichst, dann kann ich nicht tanzen und auch nicht zaubern." "Natürlich", versicherte Anna. "Ganz bestimmt schweige ich. Du kannst Dich auf mich verlassen." Die Alte war von der Bank aufgestanden, reichte Anna die Hand und sagte "Mein liebes Mädchen, komme heute Abend, wenn die Nacht ganz hereingebrochen ist wieder an diesen Ort. Dann nehme ich Dich mit in meinen Zauberwald." "Oh, wie schön. Ja, ich komme ganz gewiss. Auf Wiedersehen, Du liebe alte Frau," sagte Anna, kehrte ihr den Rücken zu und trat den Rückweg zum Waisenhaus wieder an. Sie schlich sich die Treppen hinauf und öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmerchen. Keiner hatte etwas bemerkt. "Zum Glück" dachte das Mädchen erleichtert. Den ganzen Tag über konnte Anna an nichts anderes denken, als an die alte Frau, und was sie gesagt hatte. Hoffentlich würde sie tanzen und zaubern können. Vielleicht dürfte sie sich sogar etwas wünschen können, denn sie war doch immer ein liebes und braves Mädchen gewesen. Am Abend legte sich Anna wie gewohnt in ihr Bettchen und lauschte gespannt nach der Turmuhr, die die Stunden einschlug. Bald würde es soweit sein. Doch sie wurde vom Schlaf übermannt und schlief ganz friedlich ein. Da hörte sie plötzlich tief im Traum eine liebliche Stimme nach ihr rufen, "Kleine Anna, komm mit mir in den Zauberwald. Gib mir Deine Hand, dann fliegen wir los." Anna sah zwischen den Nebeln ihres Traumes eine wunderschöne, junge und hübsche Fee an ihrem Bettchen stehen, die ihr die Hand reichte. "Komm, mein Kind, es wird Zeit zu gehen. Wir müssen uns beeilen." Anna reichte der Fee ihre Hand, die sich ganz weich und warm anfühlte. Dann war wieder alles dunkel, und sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Da ertönte plötzlich eine wundervolle Melodie, wie von tausend Flöten gespielt. Anna erwachte, blickte sich erschrocken um und bemerkte, dass sie mitten im Wald auf einer Wiese saß, wo die Blumen blühten und die Vögel sangen. Die Bäume wogen sich im Wind, und es war wunderschön warm. Aber es war Nacht. "Seltsam," dachte Anna. "Ich fühle mich so geborgen wie am helllichten Tag. Die Blumen duften und die Vöglein singen." Da trat auf ein mal die wunderschöne Fee aus dem Wald auf sie zu und sagte zu ihr, "Nun, Anna, habe ich Dir zu viel versprochen? Glaubst Du mir nun?" "Ich bin überwältigt", sagte Anna, immer noch völlig fassungslos. "Nun musst Du mir aber auch etwas vortanzen, ja?" bettelte sie. "Ja, mein Kind, schau nur zu", erwiderte die wunderschöne Fee. Plötzlich begann sie zu schweben. Ihre goldenen Haare wehten im Wind und ihr feines, filigranes Kleid flatterte. "Sie bewegt sich wirklich wie eine Silhouette", dachte Anna. "Und wie schön sie ist. Ebenso wie meine Mama." Die wunderschöne Fee tanzte und tanzte zu der lieblichen Melodie, so dass Anna am liebsten geweint hätte, so anmutig was das alles. Als die schöne Fee ihren Tanz beendet hatte, sagte Anna plötzlich, "Liebe Fee, ich glaube Dir nun, dass Du tanzen kannst, aber was ist nun mit dem Zaubern?" "Ja", sagte die schöne Fee, "weißt Du, ich will es versuchen. Ich habe Dir ja gesagt, dass ich es nicht immer kann. Aber, Du bist so ein liebes und gutes Mädchen mit einem großen Herzen und einer warmen Seele. Da wird es sicher gelingen. Anna konnte es vor Aufregung nicht mehr aushalten, bis die Fee sprach, "Liebes Mädchen, ich möchte Dir einen freien Wunsch schenken. Du darfst Dir alles auf der Welt wünschen, was Dir gefällt. Ich werde es Dir erfüllen." Anna dachte krampfhaft nach. Da wurde sie wieder sehr traurig, und die Tränen rollten ihr wie kleine Flüsse über das Gesicht. Sie schluchzte und sagte mit Augen voller Tränen, "Ich wünsche mir so sehr, dass ich meine Mama und meinen Papa wieder hätte. Dass wir wieder zusammen sind und glücklich." "Mein liebes Kind. Diesen Wunsch kann ich Dir leider nicht erfüllen. Dafür reichen meinen Zauberkräfte nicht aus, aber, komm ein mal mit mir. Ich werde Dir etwas zeigen," so sprach die gute Fee, fasste Anna an der Hand, und sie gingen in den Wald hinein. Anna schaute sich verwundert nach allen Seiten um," Was mag die schöne Fee mir wohl zeigen?" dachte sie. Sie betraten einen steilen, steinigen Pfad, der auf eine kleine Anhöhe führte. Dort war eine Lichtung. Sie gingen darauf zu, und plötzlich musste das Mädchen die Augen zukneifen. Sie blinzelte und fragte voller Verwunderung, "Was ist das? Wo sind wir hier?". Als sich ihre Augen langsam an das helle Licht gewöhnt hatten, sah sie ein kleines Tal. Dort schimmerte ein wunderschöner See in allen Blau- und Grüntönen, der von einem Wasserfall, der wie Sterne funkelte getränkt wurde. "Hier sind wir," sagte die gute Fee. "Ist es nicht wunderschön hier?" "Ja, das ist es." erwiderte Anna immer noch völlig verwundert. Da sprach die Fee, "Das ist das Wasser des Lebens. Jeder, der davon kostet, wird mit ewigem Leben beschenkt. Schau nur." Anna riss die Augen auf. Sie konnte nicht fassen, was sie da sah. Da tanzten ihre Mama und ihr Papa freudig um den See herum, umarmten sich und waren glücklich. "Lass mich schnell zu ihnen laufen," rief Anna voller Glück. Aber die gute Fee ließ ihre Hand nicht los. "Nein, mein Kind. Du kannst nicht zu ihnen gehen. Dies hier ist eine Vision, die Dir zeigen soll, dass es Mama und Papa gut geht, und es ihnen an nichts fehlt. Wenn Du jedoch hinunterläufst, dann wirst Du dort nichts finden, als ein ausgedorrtes Flussbett. Es ist eine Vision. Aber dennoch ist sie Wirklichkeit, wenn Du feste daran glaubst." Anna war sehr traurig, dass sie nicht hinuntereilen, und ihre liebe Eltern in den Arm nehmen konnte. Dann begann ihr kleines Herz jedoch zu hüpfen vor Freude, weil sie ihre Mama und ihren Papa so glücklich gesehen hatte. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Es wurde finster, so dass Anna die Hände vor Augen nicht mehr sehen konnte. Sie fürchtete sich so sehr, denn sie war ganz alleine. "Wo waren ihr Eltern, wo die gute Fee? War das alles nur ein Traum gewesen?" fragte sich Anna verzweifelt. Sie setzte sich ins Gras und begann zu weinen. Ihre Tränen und das Schluchzen wiegten sie in den Schlaf. Einen tiefen Schlaf. Plötzlich spürte Anna etwas Feuchtes in ihrem Gesicht. Sie konnte die Augen nicht öffnen, so müde und erschöpft war sie. Sie blinzelte vorsichtig zwischen ihren langen Wimpern hindurch und erschrak so heftig, dass sie mit einem Mal hell wach war. "Was ist denn das? Wo kommst denn Du her? Was ist denn bloß passiert?" rief Anna laut. Sie traute ihren Augen nicht. Da lag sie wieder in ihrem Bettchen im Waisenhaus, und auf der Bettdecke saß das kleine, niedliche Kätzchen der alten Frau, die sie am Morgen im Park getroffen hatte. Als das Mädchen gerade nach dem Tier greifen wollte, sprang plötzlich die Tür auf, und die Oberin betrat das Zimmer. "Bitte, beruhige Dich, Anna. Du hast schlecht geträumt," sagte sie. "Wieso, was ist denn passiert?" rief Anna erschrocken. "Anna, Du hast immer wieder nach einer schönen Fee gerufen. Du hattest einen schlimmen Traum, weiter nichts. Bitte schlafe jetzt wieder weiter," beruhigte sie die Oberin. Sie schloss die Tür hinter sich zu, und Anna hörte ihre klappernden Schritte auf dem Korridor. "Na nu," fragte sich Anna. "Du bist ja immer noch hier, Du kleines Kätzchen. Die Frau Oberin hat gar nicht geschimpft, und dabei sind Tiere hier im Haus doch verboten. Bist Du etwa unsichtbar? Das kann doch nicht sein." Die Kleine war völlig verwirrt und konnte es immer noch nicht glauben, dass es so etwas gab. Das kleine Kätzchen schnurrte sanft, rollte sich ein und schlief. Plötzlich hörte Anna wieder die wundervolle Flötenmusik, die sie im Zauberwald so bewundert hatte. Sie schloss die Augen und ließ sich in die Kissen fallen. Der Schlaf überkam sie, und da sah sie wieder die wunderschöne Fee vor ihren Augen. Die sagte zu ihr, "Liebe Anna. Was Du heute erlebt hast, das war kein Traum, sondern eine Vision, die Wirklichkeit geworden ist. Glaube mir, niemand kann mich sehen, außer Dir, denn ich bin Deine gute Fee, und ich beschütze Dich. Ich bin die alte Frau im Park gewesen, und ich bin auch das Kätzchen. Du weißt doch, ich kann zaubern. Ich habe für Dich getanzt, und ich habe für Dich gezaubert, weil Du ein liebes und gutes Mädchen bist. Behalte alles, was Du gesehen hast in Deinem Herzen auf. Dort ist es sicher, und niemand wird Dir den Glauben daran wieder weg nehmen. Du hattest die Kraft zu träumen und hast an mich geglaubt. Vertraue mir. Träume sind stärker als die Wirklichkeit. Nur Die, die wirklich träumen können, werden dadurch die Kraft zum Leben erhalten. Lebe in Deinen Träumen und erträume Dir Dein Leben, dann wirst Du glücklich sein." So sagte die gute Fee. Die wunderschöne Melodie verhallte, und Anna schlief friedlich und glücklich in ihrem Bettchen ein. All, das, was ihr die gute Fee gesagt hatte, würde sie beherzigen. Gott hatte ihr eine Chance zum Leben gegeben, und die würde sie nun endlich nutzen, denn sie wollte ein liebes und gutes Mädchen sein.
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(Bilder von Richard Earl Thompson) |